Sphärensucher - les blessures de l’amour aux temps modernes

Inhalt:

Es geht um Vieles und viel in diesen mal kraftvoll-massiven, mal spielerischen, oft hitzigen Texten, die den Bogen von Allem und Nichts zu den Frauen spannen; von gewissen Versteifungen des Geistes, denen die Greuel nachgehen, zur mannigfaltigen Schönheit des Körpers; vom Gehirn, das buchstäblich als Denkapparat gedacht wird, zu Gott und Ich als seinen Produkten; von der sich selbst genügenden Dichtung zur poetischen Widersetzlichkeit; von der Würde, die das Unterpfand der Mündigkeit ist, zur Freiheit, die der Dichter sich nimmt, um von sich so radikal zu reden wie mit dem Leser; spannen ihn vom Kontinent der gewöhnlichen Umstände nach Italien und Frankreich, die dem Autor Selbstverdichtungsorte sind, und immer wieder zum Meer, dessen großer Spiegel alles ins Verhältnis setzt; stets sind es Bögen vom Schlaf zum Traum, vom Halbschlaf zum Leben, vom Leben schließlich zum Lebensgefühl, in dem der Sphärensucher den Sinn seiner Existenz erkennt.

Und doch fügen sich alle diese Bögen nicht zu einer lyrischen Kuppel, die abgehoben über der Welt schwebt, sondern zu einem Kessel, in dem sich eine Kraft verdichtet, die uns ergreift und vielleicht sogar: bewegt.

 

Autor

Simon Enitor, geboren in Freiburg im Breisgau und aufgewachsen in Mailand, hatte Wohnsitze in  Italien, Frankreich, der Schweiz und Österreich. Nach seinem Studium verdingte er sich in etlichen Berufen, so als PR-Mann bei der italienischen Inselbehörde, als Werbetexter, Journalist und Fernsehschauspieler. Daneben verfasste er Kinderbücher, Szenarios für Graphic Novels, Liedtexte und Essays, letztere vor allem zur Kulturtheorie. Heute lebt Enitor mit seiner Familie als Autor, Verleger und Produktentwickler auf der Laguneninsel Burano und in Camogli an der ligurischen Küste.

Buchbeschreibung

  Simon Enitor
  Sphärensucher

Genre: Lyrik

Preis (inkl. MwSt.): 21.40 €

Erschienen: 27.12.2012

Umfang: 379 Seiten

Aufmachung: Hartkarton mit Leinen bezogen, Schutzumschlag und Leseband

Extras: Etliche Exemplare vom Autor signiert, manche auch vom Illustrator.
            Die Auflage ist von Hand nachbearbeitet.

ISBN: 978-3-90-263491-7

 

 


 

Leseprobe 1

Park und Röntgenbild

Durch die Straßen von Turin
trieb ich heut’
im Strom eiliger Menschen.
Keine Frau sah ich unter ihnen,
keinen Mann,
und kein Kind
auf den Straßen von Turin,
wo ich einhielt auf Plätzen,
umtost von formlosem Blech,
in Kirchen und Hallen
inmitten gesichtslosen Fleisches.

Ein geschmiedetes Floß bezog ich später
am Tag unter tropfnassen Bäumen
und beschaute gegen den Himmel
die leuchtende Transparenz
eines silberbromidverschleierten Tiers.
Gestockt und geschichtet in der Untiefe der Gelatine,
offenbarte es
das Perlmutt seiner strukturgebenden Konturen:
zweifellos ein Telencephalon.
Und doch: Ich fand keine Spur
zwischen Cortex und Hippocampus,
in Corpus Callosum und Amygdala,
nicht die kleinste Spur
meines gegen den Himmel schauenden Ichs.

Leseprobe 2

Ezra, Èze und du

Wir begegneten einander
das erste Mal
auf dem Friedhof
der Protestanten zu San Michele.

Rauchend saß ich
auf der Umfriedung von Ezra Pounds Grab.
Es war schon kühl
und ging wohl gegen Dezember.

Zehn Monate
sind seither vergangen.

Heute Morgen begegneten wir einander
das erste Mal
a tergo auf dem Bett
eines Provenzalen zu Èze.

Lesend saß ich
hernach, von deinen Beinen umfriedet.
Es war schon warm,
denn noch ist September.

Leseprobe 3

Hört mich an,
Ihr Prediger sämtlicher Kirchen,
Tugendwächter ohne Lebensart,
nasenrümpfende Tuscheltiere:
Jeder Schnapstümpel ist mir heiliger
als das Weihwasser euerer Tempel,
gebenedeit wie ich bin
unter den Trinkern,
den Cocktail-, Rotwein- und Whisky-Trinkern,
der ungekreuzigte Christus unter den Trinkern,
beseelter als der Heilige Geist,
ein Gott der Hotelbars:
reinste Trinität!
Die Barmänner und Kellner
in ihren weißen, feierlichen Livrees:
Die Ehrfurcht verrät,
daß sie ihren Messias erkannt haben,
den personifizierten heiligsten Zweck ihres Tuns.
Ihre Hände schwärmen aus,
um aus sämtlichen Quellen
das Wasser des Lebens zu schöpfen:
mein kommendes Blut in silbernen Bechern,
die sie umfassen wie im Gebet.
Ja doch! Ich trinke!

Leseprobe 4

Weihnachtswunder der frommen Hure

Liebling hör’, ich muss noch einmal schnell
für die Kleine was besorgen,
Ach herrje, Weihnacht ist schon morgen!,
sprach ’s und lief durch die Gassen ins Bordell.

Er fand sich gleich in einem Duft nach Karamell
und Marzipan, von fremden Armen sanft umworben,
ganz anders als zuhause, wo der Norden
in Möbelpolituren glänzte, kalt und hell.

Nie zuvor hatte er ein solches Haus betreten,
und die Kunden und die Huren nur mit Hohn bedacht.
Jahre später noch konnt’ er sich ’s kaum erklären.
In der Mette aber dankte in Gebeten
die Dirne dem Herrn, daß ein Freier in dunkelster Nacht
gekommen war, in ihr den schönsten Menschen zu ehren.

Leseprobe 5

X. Gesang

EINES SECHSTEN LEBENS BEDARF ES, um ein Wunder
Lebensart, Lebensgefühl, ja Leben, werden zu lassen,
es sich anzuverwandeln, ihm jede Zelle zu öffnen,
auf daß es den Kern ihr entnehme und sich selbst an dessen
     Stelle setze,
sich in jede Faser flechte, in jede noch so feine Kapillare,
das Wunder, das seine sieben Geschwister
zu Attraktionen eines Flohzirkus’ erniedrigt,
fassbar in Gesängen, doch selbst für die farbigste Stimme
     zu reich,
um mehr zu sein in ihr als Abglanz und Echo … denn
     wie’ s zur Voraussage
eines künftigen Knotens in der verfitzten Knüpfung von
     Ursache und Wirkung
eines Abakus’ bedarf, der dem Objekt seiner Berechnung
     aufs Innerste gleicht,
– und dennoch ein Abbild immerzu bliebe – so reicht
die Summe aller Künste nicht hin, um das Wunder zu
     beschreiben,
das paradiesischer ist als der Himmel und weniger Hölle
als das Inferno, 300.000 Quadratkilometer, genagelt
auf Autobahnkreuze mit megalopolischen Stiften,
die kopfwärts enden in Fußballarenen,
und sich doch in einem Wort auf´s Dichteste zusammendrängt:
     ITALIEN.
Ein Wort, das man sich hüten sollte, fallen zu lassen, weil
     es sonst aufspringt –
nicht wie ein Schläfer, der sich hin und her wälzt
auf den Scherben seines schlechten Gewissens,
vom Mitgefühl seines Beischläfers geweckt
     oder von dessen Verdruss …
– nicht wie die Knospe des Springkrauts, das hochgeht,
     wenn einer die Wiese
an der Hand seines Mädchens durchquert …
– nicht wie die Wächter der Tugend im Angesicht der schönsten,
unverdorbensten Liebe: der Liebe der Jugend …
sondern wie das Horn der Amaltheia IN EINER SPRINGFLUT
STETS WEITERER WÖRTER, die sich magisch entfalten,
heftiger als jeder Sinn es auf einmal zu fassen vermochte:
die Lärchenwälder um Cortina d’ Ampezzo; Ramandolo
     im friulischen Frühling,
Turnierplatz der Blüten von Kirsche, Apfel und Mandel,
     vom Berge beseh’n ;
das Stilfser Joch, beritten auf einer steinernen Schlange
     und bestiegen
in schottischem Tweed inmitten einer nylonhäutigen Herde
     glotzender Aliens;
die Aiguille du Midi, hoch über Entrevès, beglitzert von
     silbernen Gondeln;
das Gelächter der Götter geschmeidiger Jugend, die sich
im Grand Hôtel des Îles Borromees zu Stresa am Ufer des
     Lago Maggiore
ein Vergnügen d’raus machen, Kellner zu spielen in
     weißen Livrées;
auf den Pfad der Stille überzusetzen aus einem andern Jahrzehnt
     mit Schiffen
kaum größer als Nachen in ein and’res Jahrhundert, das dort
     auf der Insel
im See des lieblichen Orta, abseits der Ströme, im Exil ist
     seit einem Jahrtausend;
tiefer zurück noch in die Äonen – vor die Zeit noch, in
     welcher der Mond
den marmornen Boden des Domes zu Mailand bestaunte,
     ohne hierfür einer Iris
aus buntem Fensterglas zu bedürfen … im Türstock zu steh’n
     der eigenen Kindheit,
der nirgendwohin als in die Erinnerung führt … Oh, Via
     Lorenteggio: du Prägstock
aus Vorstadtgerüchen und Modernität, Mortadella und
     Automobilen …
Teil war ich nur einmal einer Nation, und du meine einzige
     Heimat;

Leseprobe 6

Fremde Frau du in der Masse,
jeden Tag begegnen wir uns wieder,
rastlos kreisend, mit gesenkten Lidern,
Wirbel, die wir sind, im Strom der Gassen.
Statt uns täglich zu verpassen,
sollten wir doch lieber
einmal wenigstens mit wachen Gliedern
je des ander’n Leib umfassen.
Die heiligste Verbindung auf der Welt
gehen drei Flüssigkeiten ein
schon heute Abend,
wenn es dir gefällt:
dein feiner Cervixschleim
mit meinem Speichel und Samen.

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